Zittern um die Weltmeisterschaft

Eine Reportage über die Internationale Deutsche Meisterschaft 2006 in Simmern, von Yvonne Thorhauer

Ganz Deutschland fiebert am 8. Juli 2006 dem letzen Fußball-WM-Spiel der deutschen Nationalmannschaft entgegen. Die 664 Starter, die bei bewölktem Himmel am frühen Morgen in Simmern ankommen, bewegt etwas anderes: Beim letzten Wertungsturnier vor der Weltmeisterschaft 2006 in Spanien steht bei vielen noch ihre Qualifikation auf dem Spiel. Auch ist die Internationale Deutsche Meisterschaft die letzte Gelegenheit, um auf der Rangliste nötige Punkte zu sammeln. Langsam trudeln auch die letzten Kämpfer ein, manche mit Schlafsack unterm Arm, da hier am nächsten Tag der Nationalmannschaftslehrgang aller Disziplinen stattfindet.
Zum Auftakt des Turniers führt das Team Magic Dragon X unter Mario Worzfeld zu viert eine Demo auf, die sie bundesweit im Kino vorführten zur Promotion von Revenge of the Warrior – Tom Yum Goong (letzteres bedeute soviel wie „Shrimps-Suppe“, weiß Mario zu berichten). Danach verspricht der Veranstalter - der heute seine muskelbetonten Shirts gegen einen dezent gestreiften Anzug in hellem aubergine ausgetauscht hat - einen großen Fernseher ab 21 Uhr für das Fußballspiel sowie Pizza und Getränke. Überhaupt scheinen die Sympathien auf seiner Seite: er fordert die Kampfrichter zu ordnungsgemäßer Kleidung auf - und auf jeder Kampffläche sieht man mindestens drei mit WKA Referee auf dem Rücken; er bittet darum, die Toiletten in gutem Zustand zu hinterlassen – und tatsächlich sehen sie besser aus, als man es von anderen Turnieren gewohnt ist. Nur leider war das Toilettenpapier schon früh aufgebraucht, wie die hellblonde Ramona völlig zu Recht feststellte. Warum allerdings immer wieder Leute die Mangelware Toilettenpapier lieber auf den Boden werfen, als es zu gebrauchen, ist ein Rätsel, das sich auf den Turnieren stets wieder aufs Neue stellt.
Das Turnier ist eröffnet: Starter, Tischbesetzungen und Kampfrichter eilen auf ihre Kampfflächen. Doch es kommt teilweise zu Verzögerungen, weil offenbar einige Trainer ihre Schüler nicht dazu anhalten, die Startkarten vollständig auszufüllen. Und so muss die Tischbesetzung nebst Kampfrichter zunächst das Quiz lösen, welcher Kämpfer wieviel wiegt und welches Gewicht zu welchem Kämpfer passt. Ein bisschen Nachdenken kann ja nicht schaden. Nachdem die Startkarte eines Herren, die sich zu den Boys verirrte, schließlich an ihrem Platz ist, kann es auch auf der hintersten Fläche losgehen. Auf neun Kampfflächen und dem einen Ring kämpft man zügig durch. Dies ist etwas, das Tom Harzé von Contactsports aus Belgien zu schätzen weiß. Schon seit vielen Jahren kommt er mit seinem Team nach Simmern, weil dort eine gute Organisation, eine schöne Halle und gute Kämpfer seien. Außerdem sei Leichtkontakt in Belgien derart unpopulär, dass es auf den Turnieren keine Kinderklassen mehr gebe. Heute ist der sympathische Blonde aus Antwerpen mit zehn Startern in gelb-schwarzer Kleidung hier. Aber auch aus Österreich, Schweiz und Italien kommt man zur Internationalen Deutschen Meisterschaft angereist: Ryan Air macht es den Italienern möglich - von Rom bis Hahn für 90 Euro. Obwohl Italien dieser Tage - aufgrund der Fußball-WM - alles andere als beliebt ist, finden sich drei dunkelhaarigen Herren zum Vollkontakt ein. Als einer der drei wegen einer Blutblase am Fuß beim Sanitäter landet, fragt dieser „Willste ’n Pflaster oder ’n Verband?“ Der Südländer versteht gar nichts, aber mit Englisch will es keiner der beiden so recht versuchen. Wer sicher kein Problem mit dem Englisch hat, ist das einheitlich in grün-weiß gekleidete Team aus Wales, das im Leichtkontakt der Boys durch schöne und saubere Techniken angenehm auffällt. Auch die Waliser gehören seit Jahren zu den festen Teilnehmern in Simmern.
Weniger schön sind die Leichtkontakt-Kämpfe der Veteranen – jedenfalls was den Härtegrad anbelangt. In der Gewichtsklasse –75 gibt es bei drei Kämpfen eine geplatzte Lippe, die vor Ort mit 5 Stichen genäht werden muss, und eine längs aufgeplatzte blau-grün-gelb-rote Nase, welche die Sanitäter mit einem handflächengroßen Pflasterverband versorgen. Micha Stephan vom Team Spallek erringt, nur mit ein paar roten Spuren im Gesicht, den ersten Platz. Er bevorzugt Leichtkontakt, da man dort in der Regel nicht K.O. gehe, aber nach ein paar harten Techniken von der Gegenseite, die der Kampfrichter nicht unterbinde, schlage man automatisch härter.
Kampfrichter sind überhaupt das große Thema in Simmern – wie auch bei anderen Veranstaltungen: Erstens sind sie Mangelware (was nicht anders sei kann bei der Anzahl von Kampfflächen), deshalb schiedsrichtern die Bundestrainer selbst das gesamte Turnier lang. Wobei der Kampfrichter-Supervisor Anne Ulbrich zusammenfasst, dass es trotzdem fast keine Ausfälle gebe und zügig durchlaufe. Zweitens würden diejenigen, die verfügbar sind, nicht automatisch abgelöst, meint Peter Spallek. Er wünscht sich, dass es für je zwei Kampfflächen einen Supervisor gebe, der sich um die Ablösung von Kampfrichtern sowie Tischbesetzung und um die Versorgung mit Getränken kümmere. Ein weiteres Problem stellten für ihn heute auch die glatten Matten dar. Und in der Tat sieht man häufig Kämpfer hinfallen, was freilich die Unfallgefahr erhöht. Den einzigen Vorteil kann man darin sehen, dass nun die Fußfeger besser klappen, wie Guido Rödel im Leichtkontakt mehrfach bewiesen hat. Abgesehen davon ist Peter Spallek mit den Leistungen der Leichtkontakt-Jugend zufrieden. Kaum hat er es ausgesprochen, fällt auch schon ein Kämpfer aus der Kampffläche auf ihn drauf, reißt ihn, zusammen mit der Frau, die neben ihm sitzt, buchstäblich vom Hocker. Das Wasser in seiner Hand landet auf der weiß gekleideten Frau und auf dem Boden. Aber es ist nichts Schlimmes passiert, vor allem hat er keine Beule bekommen, wie er erst befürchtete.
Deutliche Töne schlägt Harald Rögner an, welcher der Ansicht ist, dass in Simmern zu viele „Nachwuchsleute“ seien, die noch nicht das Niveau für eine Deutsche Meisterschaft hätten. „Ich kann die Trainier nicht verstehen, die diese Leute hierher schicken“, sagt Harald in seiner angenehm direkten Art frei heraus. Weiterhin habe eine geringe Anzahl von Startern den Vorteil, dass man im Leichtkontakt auch 3 Mal 2 Minuten kämpfen könne, wie es eigentlich vorgesehen sei. So müssten sich die Starter bei ausländischen Turnieren nicht umgewöhnen und würden mehr gefordert werden. Mit der Organisation in Simmern ist Harald zufrieden und die daneben sitzende Anne bringt es auf einen Punkt: „Simmern ist immer gut!“
Hingegen ist der Bundestrainer im Pointfighting, Robert Ulbrich, zufrieden mit den Kämpfen: Das Niveau sei sehr hoch und die Starter seien gut vorbereitet. Er hebt die zwanzigjährige Margaret Woltschanski aus dem Zentrum Usingen (Wie viele Kickbox-Schulen gibt es eigentlich noch in Usingen? Ist ja eine echte Hochburg!) hervor, die zum ersten Mal in der Damenklasse kämpft und beim Pointfighting in –65 und +65 zwei Mal den zweiten Platz belegt. Ihr Trainer ist Alfred Schiering. Bei den Herren belegt Timmy Sarantoudis, noch 17 Jahre, aus dem Nahkampfzentrum Niedernhall zum wiederholten Mal in den Klassen –65 und –70 den ersten Platz. Bei den Boys –50 gewinnt sein Bruder Christo und sichert sich damit wieder einmal den ersten Ranglistenplatz, berichtet der Papa stolz, während er am Vollkontaktring den Bewertungsbogen ausfüllt. Neben ihm sitzt Nino Lourzki von den Scorpion Fighters, der die Siege seiner Tochter Tamara bei Kids –40 und –45 und den Sieg der siebenjährigen Newcomerin Maria Schneeberger bei Kids –25 hervorhebt.
Während auf den Kampfflächen mal leicht, mal weniger leicht gekämpft wird, geht es im Ring richtig zur Sache. Der Newcomer Marcin Bajko beendet mit einem der spektakulärsten K.O.’s dieser Veranstaltung frühzeitig den Kampf: Sein Schienbein gegen das gegnerische Kinn bringt den muskulösen Kämpfer, der selbst seinen vorherigen Gegner K.O. schlug, auf die Bretter. Nicht nur hier zeigt sich, wie wichtig es ist, qualifizierte Mediziner zu haben. Diese sind prompt zu Dritt zur Stelle mit Köfferchen und Infusionen. Als der Kämpfer sich nach einiger Zeit wieder erhebt, gibt es Beifall vom Publikum.
Frank Fiedler meint, dass es im Vollkontakt noch Reserven gebe. Häufig fehle das „defensive Arbeiten im Ring, die Raumaufteilung und der zweite Angriff“, analysiert er schnell und scharf. Man habe zwar gute Ansätze gesehen, aber es müsse noch viel Aufbauarbeit geleistet werden. Manche Kämpfer fasst er langfristig ins Auge. Viele Kämpfe würden noch mit dem Kopf oder dem Herz gewonnen. Frank bedauert, dass gewisse Gewichtsklassen chronisch unterbesetzt seien, wie etwa die untere Gewichtsklasse bei den Frauen. Hier seien die Heimtrainer gefordert, Leute aufzubauen. Einschneidende Änderungen bei den WM-Qualifikationen gibt es durch das Turnier in Simmern nicht. Einen Favorit für die WM nennt er nicht: „Ich lasse mich in Spanien überraschen.“
Aber vorher gibt es hier in Simmern Überraschungen – und zwar bei den Formen: Beim Korean Style verdrängt Dennis Sigmund, der den 2. Platz machte, Johann Grimmer von der Liste der WM-Qualifikation, berichtet Steve Kainath. Als „Medaillengaranten“ für Spanien sieht er bei Softstyle und Waffen Christos Bakas, der zum ersten Mal für Deutschland bei einer WM starten wird, und bei Hardstyle David Ludwig, der zum zweiten Mal teilnehmen wird. Der „Pink Panther“ will, nachdem er in Leinefelde zum 10. Mal Deutscher Meister geworden ist, bei seiner 10. Weltmeisterschaft auch ganz nach oben, diesmal bei den Veteranen Waffen.
Udo Reichmann, ein Newcomer dieses Jahr, startet im Freestyle, wo er den dritten Platz belegt, und bei Waffen mit sowie ohne Musik, wo er jeweils auf Platz vier kommt. Er freut sich zwar auf die Weltmeisterschaft, wo er Waffen mit Musik laufen wird, ärgert sich aber heute über kleine „Patzer“. Der Dreiundfünfzigjährige habe sich eine bessere Leistung gewünscht. Das Turnier gefalle ihm gut und er habe schon viele Freunde gefunden. Was er bemängelt, ist, dass die Punktrichter stets die gleichen blieben und alle Disziplinen durchweg beurteilten. Hingegen sei es wünschenswert, diese nur in ihrer speziellen Stilrichtung einzusetzen.
Eifrig bei den Formen dabei ist, wie immer, Mario Worzfeld vom Team Magic Dragon X, wobei X für eXtreme steht, wie er betont. Auf die (anscheinend außergewöhnliche) Frage, was denn extrem an dem Team sei, stutzen er und sein Kollege einen Moment und antworten schließlich: extrem erfolgreich, extrem exakte Formenläufe. Ja, ihr Erfolg in Simmern und in der Vergangenheit bestätigt tatsächlich, dass das X seine Daseinsberechtigung hat. „Das Niveau war sehr hoch“, lobt Mario – der junge verheiratete Papa, der eigentlich auf blond steht - die Formenläufer gegen Ende der Veranstaltung und freut sich über die rege Teilnahme trotz Fußballweltmeisterschaft.
Gegen 20 Uhr sind alle Kampfflächen – außer der neun ganz hinten – abgebaut. Nur im Ring geben wohlgeformte Körper noch alles. Drumherum sammeln sich Kämpfer mit verschiedenen Blessuren und Eisbeuteln am Kopf. Ein hellblonder Sanitäter mit Brille fasst zusammen, dass Prellungen an diesem Tag am häufigsten vorkamen, gefolgt von Nasenbeinfrakturen. Und obwohl ein anderer Sanitäter, während er eine Lippe nähte sagte, dass heute viel zu tun sei, meint der Hellblonde: „Der Ring ist heute im Gegensatz zum letzten Jahr relativ human.“ Viele Verletzungen seien auch von den Kampfflächen gekommen.
Am Ende des Tages ist der Veranstalter zufrieden mit dem Verlauf des Turniers und mit der Menge an Startern. Weder das Problem der mangelnden Kampfrichter noch das des Leichtkontakts hat er zu verantworten. Hier sind vielmehr alle WKA-Mitglieder gefragt. Warum sollten sich Kampferfahrene nicht als Punktrichter zur Verfügung stellen? Und bei dem Problem des zu harten Leichtkontakts sind sowohl Trainer, Kämpfer als auch Kampfrichter gefordert. Und wer trotzdem hart schlagen möchte, dem steht schließlich der Ring offen. Vielleicht können sich dann auch die chronisch unterbesetzten Gewichtsklassen einmal auffüllen. Frank Fiedler würde sich bestimmt freuen...
So groß die Veranstaltung einerseits war, so familiär war sie andererseits: Altbekannte Gesichter überall und die rockige Frau des Veranstalters mit den feuerroten Haaren verzichtete bei manchen auf den störenden Stempel, weil sie sich die Gesichter merkte. Nebenan gab es beim Catering leckere selbstgeschmierte Brötchen (leider ging die Bratwurst schon sehr früh aus), Kuchen, Schokoriegel und eine sehr nette Bedienung. Als Kampfrichter konnte man sich hier jederzeit verpflegen lassen. Auf Essensmärkchen - denen die Kampfrichter auf anderen Turnieren zumeist hinterher rennen müssen und die dazu noch spartanisch verteilt werden – verzichtete man hier. Das machte das Ganze noch sympathischer. Man fühlte sich ein bisschen wie daheim. Ob wir das nächste Jahr wieder nach Simmern kommen? Wenn sie 2007 schon aus Belgien und aus Wales hierher kommen werden, warum nicht auch wir?!

Für ein kurzes Feed-Back – egal ob positiv oder negativ - zu dem Bericht wäre ich Euch dankbar: yvonne777y@yahoo.de